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Geschichten

Die Narbe

Der Schimmer ist verschwunden. An ihrem Hals glitzert es nicht mehr und das ist mir ungewohnt und beunruhigt mich, wenn ich zu ihr hinüber schaue. Das Fehlen der Kette erscheint mir wie eine frische Narbe auf ihrer Haut, sosehr habe ich mich an diesen Anblick gewöhnt. Selbst wenn sie nackt war (sie bewegte sich gerne ohne Kleidung in der Wohnung) und auch wenn wir miteinander schliefen, schimmerte unter ihrem Gesicht immer die Schnur der Rubinkette, die sich aus dem Braun ihrer Locken heraus um die Gurgel schlängelte und das Grün ihrer Augen unterstrich. Jetzt sehe ich die Kette immer noch als Phantom an ihrem Kehlkopf und wie im Negativ farbverkehrt: ein seltsam heller Streifen, der mir sofort ins Auge sticht und ich weiss nicht wie es ihr damit geht, da sie nicht darüber spricht. So empfinde ich sie als entblößter, als in unseren wildesten Momenten. Geklaut. Banal geklaut mit dem Koffer am Abreisetag. Mir war in all den Jahren nie aufgefallen, dass sie die Kette beim Duschen ablegte. Sowohl die Kette als auch unseren kleinen Koffer hatte sie in der Eile im Hotelzimmer vergessen, während ich schon im Speisesaal auf sie wartete. Erst beim Checkout an der Rezeption bemerkten wir das fehlende Gepäck. Im Hotelzimmer vergessen. Ich frage mich bis heute, ob sie das Fehlen der Kette nicht spüren hätte müssen.
In der Wohnung trägt sie jetzt einen Kimono und ich empfinde meine Blicke auf sie als übergriffig, wenn meine Augen ihren Körper unter der Seide zu erahnen versuchen und wenn der Kimono beim schnellen Umziehen von ihrer Haut gleitet. Ausserdem habe ich Hemmungen mich ihr zu nähern oder sie zu berühren. Mich hemmt dieses Narbennegativ am Hals und auch ihr Blick scheint mir ungeschützter als vorher. Beschämt erscheint sie mir sogar und vor allem entblößt, wenn sie dann doch wieder kurz nackt vor mir steht oder sie sich in einer uns neuen Vorsicht im Bett neben mich legt. Ich bereue meinen Aussetzer an der Rezeption. Der Koffer tauchte – um einige teure Kleidungsstücke erleichtert – wenig später wieder auf, die Kette nicht. Entblößt und schutzlos scheint sie mir, seit ich sie angeschrien habe und ich schäme mich, als hätte ich ihr die Kette mit eigenen Händen vom Halse gerissen.
Bisher war ihr jede Vorsicht vor meinem Körper fremd, sie suchte die Nähe meiner Hände, meines Atems und provozierte mich regelmäßig sie zu überwältigen. Nun sind ihre Gesten auf Schutz gerichtet. Sie legt sich neben mich und ihr Blick prüft mit gekräuselter Nase den Abstand zwischen uns. Dann wickelt sie sich in die Bettdecke ein und dreht sich von mir weg. Ich war ausgerastet, nur kurz aber um so heftiger, weil in dem Koffer auch zwei Masken waren, die ich am Vortag für achthundert Euro auf dem Bazar gekauft hatte. Sie hatte schon geweint bevor ich sie anschrie. Wegen der Kette. Ich entschuldigte mich sofort bei ihr und erschrak im selben Moment über ihren Gesichtsausdruck. Die Lippen fest geschlossen die Augen weit geöffnet und die Haut ihres Gesichtes zum platzen gespannt. Entsetzen und ein kalter Zorn, als habe sie das wahre Gesicht hinter einer Maske gesehen, die hier vor ihren Augen zerbrach. In der schlagartig hereingebrochenen Kälte spürte ich den Riss den meine Wut zwischen uns getrieben hatte.
Sie hat mir mit Worten verziehen, aber in ihrem Verhalten ist das Vertrauen zu mir verloren gegangen. Sie hört mir jetzt ohne Interesse zu und betrachtet mich ohne Wohlwollen. Kampfbereite Abwehrhaltung, als warte sie nur darauf, einen nächsten solchen Ausbruch  kraftvoll zu erwidern.
Soll ich ihr eine neue Kette kaufen? Ähnlich aber nicht identisch? Die andere Kette war ein Abitursgeschenk ihrer Großmutter, dem einzigen Menschen in ihrer Familie, zu dem sie ein gutes Verhältnis hat. Ich habe eine Kette in der Art gefunden und bin mir unsicher, jetzt, wo ihr Gesichtsausdruck mich nur noch zu tolerieren und nicht mehr zu schätzen scheint, ob sie dieses Geschenk als Olivenzweig oder als weiteren Ausdruck meiner Übergriffigkeit aufnehmen würde.
So beschleicht mich ihre Vorsicht und kriecht in Form von zunehmenden Hilflosigkeiten in mein Verhalten. Neulich beim Frühstück war sie kalt. Nicht mehr vorsichtig, sondern eiskalt. Ich fragte, ob noch Kaffee da sei und sie antwortet mir nicht, sondern stand auf und verliess die Küche. Erst im Türrahmen murmelte sie ohne sich nach mir umzudrehen: “Du kannst gut selber nachschauen, wenn du was willst.“ Mein Blick blieb einige Momente im leeren Türrahen hängen. 
Wir schlafen noch miteinander, sogar in der gewohnten Intensität, aber die Blicke, die wir über den
Tag verteilt miteinander austauschen, werden seltener, kürzer und vor allem kühler. Immer wieder fällt mein Blick auf den fehlenden roten Streifen an ihrem Hals. Nach dem Frühstück habe ich sie massiert, sie mag das sehr, aber als ich an ihren Nacken kam, da bat sie mich aufzuhören. Ob alles in
Ordnung sei fragte ich und sie hat sich bedankt und gesagt ja, aber es reiche ihr jetzt. Das ist neu. Die Kühle in ihrer Stimme gab mir einen Stich. Fremde Höflichkeit. Dann zog sie den Kimono an und legte sich im Kimono ins Bett. Früher trug sie nichts im Bett, keinen Pyjama und auch kein Nachthemd, bestenfalls eine Unterhose wenn sie ihre Periode hatte.
Ich fühle mich abgesondert. Meine Bitte um Entschuldigung war aufrichtig, sie weiss dass ich nicht
nicht zu Zornesausbrüchen neige, ich gerate sogar viel seltener in Zorn als sie es tut und ich trage nie nach. Mich bedrückt diese strafende Stille, mich bedrückt, dass sie sich weigert im Verzeihen eine Wert zu sehen und die daraus resultierende sich ständig wiederholende Betonung der Distanz. Den Groll ist ungerecht und doch schimmert jedes mal wenn mein Blick auf sie fällt, dieser helle Streifen an ihrem Hals und trifft mich ins Mark.

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