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Montag, 18. November 2013

Lavastrom

Punkte

- Botschaft der Demokratischen Republik Kongo
- Andreas Gryphius
- 9. Klasse
- Autohäuser
- Rheine
- Bosnien


Ich habe eine Mitfahrgelegenheit nach Münster und bin dafür nach Charlottenburg gefahren. Wir haben dort eine U-Bahnsation als Treffpunkt vereinbart.  Als ich an der U-Bahn eintreffe, ruft mich der Fahrer an, es dauere jetzt doch noch - nicht lang, nur zehn Minuten  - ich möchte doch bitte zur Botschaft der Demokratischen Republik Kongo kommen. Das ist gleich um die Ecke. Das mache es schneller. Die Botschaft ist tatsächlich um die Ecke, in einer ruhigen Wohngegend, und direkt vor der Tür steht das Auto mit Münsteraner Kennzeichen. Das Auto ist leer. Ich schaue auf das Botschaftsgebäude, das sich von den Wohnhäusern hier nur darin unterscheidet, dass die Rollläden im Erdgeschoss heruntergelassen sind und über der Haustüre zwei Videokameras schräg nach rechts und links schielen. Das letzte Mal als ich vor einer Botschaft stand, war das zur Verlängerung meines US-amerikanischen Reisepasses. Der dortige Sicherheitsaufwand liess mich rektale Untersuchungen erwarten. Hier nichts. Leute kommen und gehen. Ich warte. Ich gehe drei Meter bis zur Straßenecke. Ich gehe die drei Meter wieder zurück. Warte immer noch. Nach einer Viertelstunde kommt einer aus der Botschaft und fragt mich, was ich hier mache. Ich warte - sage ich ihm  - auf jemanden, der zur Zeit in der Botschaft zu tun habe. Aus Münster. Ja der sei noch da, es dauere aber noch ein wenig. Dann geht er wieder rein. Kurz darauf kommt mein Fahrer heraus. Er ist Kongolese und ist aus Münster hierher gekommen, um seinen Pass verlängert zu bekommen. Er trägt einen blauen Anzug mit Streifen und rote, spitz zulaufende Schuhe. Es ist ihm sichtlich unangenehm, dass ich warten muss und er bittet mich mitzukommen. Es könne jetzt wirklich nicht mehr lange dauern. Wir packen meinen Koffer in seinen Auto und ich komme mit hinters Haus und dort in einen Kellereingang, der mich an den Waschkellereingang meiner Grossmutter in den achtziger Jahren erinnert. Dort im Keller sitzen wartend noch andere, deren Gesichtsausdruck darauf schließen lässt, dass auch sie schon deutlich länger hier sind, als sie das befürchtet hatten. Eine Frau mit ihren beiden jugendlichen Kindern - Sohn und Tochter - sitzen am Tisch, ohne sich mit irgendetwas zu beschäftigen und eine andere Frau hat sich auf ein Sofa gefläzt, ihr Daumen rutscht unruhig über den Display ihres Smartphones. Das Mobiliar besteht aus durchgesessenen braunen Ledersofas und gepolsterten Stühlen der frühen neunziger Jahre, die in Pastellfarben bespannt sind. An der Wand hängt ein Poster "Leaders of the Democratic Republic of Congo since 1960". An den mit der Leopardenmütze kann ich mich erinnern. Die Frau, deren Kinder deutlich dunklere Haut haben als sie selbst, versucht mehrfach mit den eigenen Kindern ins Gespräch zu kommen, aber die beiden lassen sie auflaufen. Die Mutter spricht sehr gebrochenes Deutsch und steht dann auf, um den Kindern auf dem Poster Mobutu zu zeigen "Unser Präsident". Die Kinder schauen kommentarlos auf das Poster. Als die Mutter auf das Bild mit den vielen Kindern Mobutus zeigt, senken sie wieder den Blick. Die Kinder tuscheln in akzentfreiem Deutsch. Dann spricht die Tochter die Mutter doch noch an. Sie sprechen Französisch. Das Französisch der Tochter ist europäisch - schwebende Phrasen in fliessenden Flötentönen während die Sprache der Mutter in zentralafrikanischen Rhythmen und kräftig gerolltem R von der Zunge schnalzt. Jetzt kommt ein Botschaftsangehöriger und stellt der Familie Fragen. Die Mutter hat eine Adresse und einen Namen falsch buchstabiert - die Kinder rollen mit den Augen. Dann legt der Beamte meinem Fahrer ein Formular zum Ausfüllen auf den Tisch. Mein Fahrer beginnt das Formular auszufüllen und fragt mehrfach nach, was genau an bestimmten Stellen einzutragen sei. Der Beamte nimmt ihm das Formular wieder ab, es gehe schneller wenn er ihm dabei helfe. Der Beamte setzt sich an den Tisch und schreibt munter los, wobei er beginnt Witze zu erzählen. Erst auf französisch, dann wechseln die beiden in eine afrikanische Sprache, die ich nicht zuordnen kann. Das Lachen wird mit dem Sprachumschwung deutlich schmutziger. Ich bin jetzt schon seit anderthalb Stunden in diesem Botschaftskeller und habe Gottseidank was zum Lesen dabei. Dann kommt noch ein Botschaftsbeamter und erklärt der Familie, die dafür extra aufsteht, dass jetzt alles in Ordnung sei. Die Kinder beobachten ihn mit geschlossenem Mund und gesenkten Köpfen, zur Verabschiedung geben sie dem Beamten stumm die Hand. Dann gehen sie, die Mutter ist erleichtert. Der stehende Beamte fragt mich, ob ich wegen eines Visums da sei. Ich verneine, schließlich warte ich auf den Pass meines zur Zeit nicht reisefertigen Fahrers. Den Roman habe ich ausgelesen und ich blättere jetzt durch eine Zeitschrift, die auf das Potential der Demokratischen Republik Kongo und auf die wegweisenden Taten des Präsidentenehepaars hinweist. Schließlich verlassen auch wir den Keller und machen uns auf den Weg. Der Fahrer ist sehr freundlich, lacht gerne und hat ohnehin dank seiner hohen fleischigen Wangen  einen Gesichtsausdruck der suggeriert, dass er jederzeit losprusten müsse vor lachen.

Der Himmel dunkelt schnell ein und wir befinden uns im Purgatorium der deutschen Autobahnen. Vor mir eine endloser Lavastrom roter Rücklichter, während uns von links ebenso endlos weisse Scheinwerfer entgegen schwappen. Sechs Kilometer Stau in der Gegenrichtung. Wir machen Witze. Noch. Bis uns auch der Stau erwischt in Bad Oeynhausen. Das schreibt man wirklich so. Wir stehen schon am Ortseingang denn wir sind (um es vorsichtig zu formulieren) nicht die einzigen, die hier unterwegs sind. Ich schaue auf die Häuser neben mir. Erst ein Industrieunternehmen namens Archimedes, dann ein Autohaus, das auf sechzig Metern Länge BMW und Mercedes zum Verkauf beleuchtet. Dann ein Freizeit Universum. Das heisst wirklich so, schimmert unbeleuchtet im Dunklen und ist ein Betonwürfel mit zwei grossformatigen Kinoplakaten drauf. Zum einen eines von "Gravity" auf dem George Clooney endgültig verloren im Nirgendwo hängt und zum anderen eine Komödie, deren Namen ich schon vergessen habe, noch während ich das Plakat anschaue. Dann wieder ein Autohaus. Ford und Hyundai. Vierzig Meter. Ich lasse den Blick zur anderen Straßenseite schweifen, dort warten Opel und Citroen. Sechzig Meter. Habe ich in der Dunkelheit ein Gartencenter übersehen? Wir stehen immer noch und an dieser Stelle sollte ich darauf hinweisen, dass mein Bruder in Bad Oeynhausen lebt. Wir kommen nicht oft dazu miteinander zu reden, aber wenn der Verkehr so bleibt, könnte ich ihn besuchen gehen ohne Fahrzeit zu verlieren und dann langsam zum Ortsausgang spazieren um dort wieder auf meinen Fahrer zu warten. Mein Blick kehrt zur rechten Straßenseite zurück. Noch eine Mercedes Benz Vertretung. Es gibt Ecken in Deutschland, in denen Autoverkaufsflächen heller strahlen als die Milchstraße und die Kultur irgendwo im Dunkel eines Freizeituniversums abhanden gekommen ist. Irgendwo da, von wo auch George Clooney nicht mehr zurückkommt. Langsam kommen wir doch noch zum Ortsausgang und ich frage mich, ob ich gerade irgendetwas über den Menschen erfahren habe, der BMW fährt, sich in Oeynhausen ein Haus gekauft hat und der mein Bruder ist, mit dem ich eben selten spreche.

Ein Verkehrsschild am Ortsausgang weist auf einen Ort namens Rheine hin und irgendetwas klingelt in meinem Hinterkopf, aber ich weiss  noch nicht was. Dann fällt es mir wieder ein: in Rheine läuft eine Ausstellung, für die ich Texte eingesprochen habe. Mitten im Sommer kam ein unerwarteter Anruf einer Kollegin, mit der ich zum letzten Mal vor zwölf Jahren beruflich zu tun hatte. Ob ich Zeit für Sprachaufnahmen hätte. Ich hatte. In der Textvorlage war auch ein Gedicht aus dem Dreißigjährigen Krieg von Andreas Gryphius, das wir in der neunten Klasse behandelt haben. Anhand dieses Gedichtes habe ich Begriffe wie "Sonett", "Dichotomie" und "Alexandriner" gelernt. Aber das ist nicht das Wesentliche, was mir davon blieb. Es war das erste Gedicht in älterer Sprache, das mich berührt hat. Verstört um genau zu sein. Es hat mich in seiner lakonischen Aufzählung der materiellen Verluste, die erst in der letzten Zeile die menschlichen Traumatisierungen subsummiert, verstört. Jemand, der auf die Allgegenwart der Traumata hinweist, sie spürbar macht, aber keine Sprache hat, um sie zu benennen. Ich habe dieses Gedicht in der Zwischenzeit nicht mehr gelesen und doch immer wieder daran gedacht. 1999 als ich zum ersten Mal durch das immer noch zerstörte Bosnien fuhr. Später bei Bildern aus Afghanistan und angesichts des toten Blickes in den Augen amerikanischer und deutscher Veteranen. Irgendwo ist Kultur dann doch mehr als Freizeit. Ein anderes Leuchten.
Ich möchte die Ausstellung sehen, wenn ich schon hier bin und Rheine von Münster nicht weit weg ist.
Verbindet gestern mit heute

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