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Samstag, 28. Dezember 2013

Unfreiwillige EINSATZ Pause

Da mein Rechner mich immer noch im Stich lässt (und ich praktisch offline bin zur Zeit)verlängere ich den "Adventskalender" in den Januar und reiche demnächst nach - sowohl EINSÄTZE als auch Feedbacks zu den eingeschickten/verlinkten Beiträgen. Gruss und guten Rutsch!! Patrick

Sonntag, 22. Dezember 2013

Monster EINSATZ 7 Literaturbeispiel

Der zitierte Satz ist die erste Hälfte von Kafkas "Auf der Galerie", die ich hiermit in vollständig reinstelle: Anmerkungen darunter.

Auf der Galerie

Wenn irgendeine hinfällige, lungensüchtige Kunstreiterin in der Manege auf schwankendem Pferd vor einem unermüdlichen Publikum vom peitschenschwingenden erbarmungslosen Chef monatelang ohne Unterbrechung im Kreise rundum getrieben würde, auf dem Pferde schwirrend, Küsse werfend, in der Taille sich wiegend, und wenn dieses Spiel unter dem nichtaussetzenden Brausen des Orchesters und der Ventilatoren in die immerfort weiter sich öffnende graue Zukunft sich fortsetzte, begleitet vom vergehenden und neu anschwellenden Beifallsklatschen der Hände, die eigentlich Dampfhämmer sind – vielleicht eilte dann ein junger Galeriebesucher die lange Treppe durch alle Ränge hinab, stürzte in die Manege, rief das: Halt! durch die Fanfaren des immer sich anpassenden Orchesters.
Da es aber nicht so ist; eine schöne Dame, weiß und rot, hereinfliegt, zwischen den Vorhängen, welche die stolzen Livrierten vor ihr öffnen; der Direktor, hingebungsvoll ihre Augen suchend, in Tierhaltung ihr entgegenatmet; vorsorglich sie auf den Apfelschimmel hebt, als wäre sie seine über alles geliebte Enkelin, die sich auf gefährliche Fahrt begibt; sich nicht entschließen kann, das Peitschenzeichen zu geben; schließlich in Selbstüberwindung es knallend gibt; neben dem Pferde mit offenem Munde einherläuft; die Sprünge der Reiterin scharfen Blickes verfolgt; ihre Kunstfertigkeit kaum begreifen kann; mit englischen Ausrufen zu warnen versucht; die reifenhaltenden Reitknechte wütend zu peinlichster Achtsamkeit ermahnt; vor dem großen Salto mortale das Orchester mit aufgehobenen Händen beschwört, es möge schweigen; schließlich die Kleine vom zitternden Pferde hebt, auf beide Backen küßt und keine Huldigung des Publikums für genügend erachtet; während sie selbst, von ihm gestützt, hoch auf den Fußspitzen, vom Staub umweht, mit ausgebreiteten Armen, zurückgelehntem Köpfchen ihr Glück mit dem ganzen Zirkus teilen will – da dies so ist, legt der Galeriebesucher das Gesicht auf die Brüstung und, im Schlußmarsch wie in einem schweren Traum versinkend, weint er, ohne es zu wissen.


Kafka scheint sich hier eine ähnliche Aufgabe (das Aufblasen eines einzelnen Satzes) gestellt zu haben, da er schamlos Doppelungen (z.B. doppeltes Adjektiv: "vom peitschenschwingenden erbarmungslosen Chef", doppeltes Substantiv: "unter dem nichtaussetzenden Brausen des Orchesters und der Ventilatoren") einbaut und auch durch die Konditionalkonstruktion "wenn-dann" ohnehin zwei Gedankenbögen unter einen Hut bekommt. Im zweiten Satz "schummelt" er mit dem häufigen Einsatz des Semikolons, hat aber auch hier eine Doppelkonstruktion des Gedankens "da es nicht so ist... da es so ist" durch die er sehr viel verbales Material unter dieses eine Gedankendach bekommt. Die Interpunktion ist hier nicht unbedingt grammatikalisch zwingend(man könnte wohl an der ein oder anderen Stelle einen Punkt setzen) sondern markiert die Gedanken in ihrer jeweiligen Gesamtheit. Die beiden Monstersätze sind in einem Frage-Antwort Verhältnis aufgestellt (einmal aufsteigend einmal Absteigend, wenn man das bildlich beschreiben möchte), die beide mit vielen visuellen Details(quasi Schnappschüssen) aufgeladen sind.


Chapeau!

Freitag, 20. Dezember 2013

Monster EINSATZ 6 Literaturbeispiel

Aufgrund einer unfreiwilligen Computerpause geht es erst heute mit den Monster EINSÄTZEN weiter, diesesmal aus berufener Feder. Der Monster EINSATZ ist tatsächlich literaturfähig. 
Folgendes ist der erste von zwei Sätzen aus denen die ganze Erzählung besteht.
Wer den Autor erkennt(googeln verboten...), hat sich ein Weihnachtssternchen verdient. Es handelt sich um eine Erzählung, die aus nur zwei Monster EINSÄTZEN besteht:


Wenn irgendeine hinfällige, lungensüchtige Kunstreiterin in der Manege auf schwankendem Pferd vor einem unermüdlichen Publikum vom peitschenschwingenden erbarmungslosen Chef monatelang ohne Unterbrechung im Kreise rundum getrieben würde, auf dem Pferde schwirrend, Küsse werfend, in der Taille sich wiegend, und wenn dieses Spiel unter dem nichtaussetzenden Brausen des Orchesters und der Ventilatoren in die immerfort weiter sich öffnende graue Zukunft sich fortsetzte, begleitet vom vergehenden und neu anschwellenden Beifallsklatschen der Hände, die eigentlich Dampfhämmer sind - vielleicht eilte dann ein junger Galeriebesucher die lange Treppe durch alle Ränge hinab, stürzte in die Manege, rief das: Halt! durch die Fanfaren des immer sich anpassenden Orchesters.

Freitag, 13. Dezember 2013

EINSATZ 5


Nachdem Georg das Landhaus eingemottet hat, hat er die gusseiserne Gartenpforte mit dem schweren Schlüssel fest verschlossen und den trägen Riegel zweimal einrasten lassen – die zweite Umdrehung kostete viel mehr Kraft als vermutet – jetzt schaut er prüfend auf das Reetdach, das wohl bis zum nächsten Sommer dem Wetter standhalten wird und schliesslich kehrt er dem in die Jahre gekommenen Sommersitz seinen Rücken zu, um forschen Schrittes zum Auto gehen, das im Kiesbett (mit einen dem hiesigen Landstrich fremden Kennzeichen) auf ihn wartet, und in dem er sogleich losfahren wird in einen muckelig-warm geheizten Großstadtwinter.

(Mann verlässt Haus 2)

Donnerstag, 12. Dezember 2013

EINSATZ 4


Nachdem er die geforderten Einkäufe getätigt hatte, kehrte er ins Haus zurück und hängte, an der Wohnungstür angelangt, die Tüte mit den Einkäufen sachte über die Klinke, legte ihr die Schlüssel auf die Fußmatte und betrachtete im Abwenden, benommen von der Unerschütterlichkeit des plötzlichen Entschlusses und selber überrascht, noch einmal den gemeinsamen Namen auf dem Klingelschild, dann schritt er mit zusammengepressten Lippen die Treppe hinab und betrat das Haus danach nie wieder.

(Mann verlässt Haus)

Mittwoch, 11. Dezember 2013

EINSATZ 3


Am folgenden Morgen erwachte sie, zog sich rasch an, blickte im Türrahmen noch einmal auf das Bett zurück, wo er noch mit Gesicht zur Wand schlief (sein Körper mit den langen Gliedmaßen unter der Decke nur erahnbar) und schon zog sie die Tür vorsichtig hinter sich ins Schloss, entschied sich gegen den Aufzug und lief die sieben Stockwerke hinunter, auf Holzstufen, die sie herrlich alt fand und im Hinabgehen kamen ihr Erinnerungen an den Weg herauf wieder in den Sinn, so dass sich zu dem schneller werdenden Klappern ihrer Absätze dann und wann ein kurzes Lachen gesellte, das sie hineintrug in den Nebel eines Berliner Novembermorgens.

(Frau verlässt Haus)

Dienstag, 10. Dezember 2013

EINSATZ 2

Hier kommt der Monster-EINSATZ für den 10. Dezemeber:



Micha, der Schlacks von einem Hausmeisterssohn, dem im letzten Winter die Hosen zweimal zu kurz wurden, schleudert seinen Flummi, wobei er weit hinter dem blond gestoppelten Kopf ausholt (und seine Angewohnheit, fortwährend mit den Schneidezähnen die aufgeplatzte Unterlippe immer wieder zu kneten, so auffällig wie abstoßend ist), Micha also schleudert einen faustgrossen Flummi an die Wände des schmalen Hinterhofes, der jeden Aufprall des Balles mit dreifachem Echo beklatscht.

(Junge spielt Ball)

Montag, 9. Dezember 2013

Ihr EINSATZ bitte!


Heute mal einen Abstecher weg vom Punkte verbinden: Ich lade hiermit zur Blogparade mit dem Thema „Monster-EINSATZ“. Die Parade geht als verspätet eingesetzter Adventskalender bis Weihnachten – wer will kann täglich posten. 
Was ist ein Monster-EINSATZ? Der Monster-EINSATZ ist ein Satzmonster, das in einem Rutsch (opulent) eine Begebenheit erzählt. Ausgangspunkt des Satzmonsters ist ein schlichter Dreiwortsatz. Was ist ein Dreiwortsatz? Ein Satz aus Subjekt, Prädikat und Objekt bspw. „Mann beisst Hund“. Den Ausgangssatz in Klammern unter den Monster-EINSATZ schreiben, oder auffordern den Dreiwortsatz zu erraten. Anders als bei anderen Schreibübungen, die sich der Verknappung widmen, geht dieser Anlauf in die Gegenrichtung: mit viel Phantasie ganz vieles aus den Ausgangsbegriffen herausfalten und aufblasen, um es dann elegant(!) zu schachteln. Ansonsten gilt völlige Gestaltungsfreiheit (Vergangenheit, Zukunft, Konjunktiv, erste oder andere Person etc.) aber in einem Satz eben. 
Wer im EINSATZ die Ausgangsworte nicht verwendet, hat sich ein Weihnachtssternchen verdient.

So, und jetzt kommt der erste Monster-EINSATZ: 

Am offenen Küchenfenster, das den Blick auf den Hof und zur rechten Seite hin sogar auf den herrlichen Park freigibt, hat sich Daniela mit Schneidebrett, Messer, Zwiebeln, Petersilie, Kürbis und anderem Herbstgemüse in der Morgensonne eingerichtet und nun putzt, hackt, schneidet und schält sie, wobei sie leise vor sich hin summt und mit dem Klopfen des Messers immer wieder ihre Melodie abschneidet, dann wieder den Oberkörper dreht – Brett und Messer auf Schulterhöhe – um mit schwungvoll gestrichenem Schub der Klinge das Gemüse auf der Rutschbahn des Brettes hinunter purzeln zu lassen in den aufsteigenden Dampf aus gusseisernem Topf, der im letzten Sommer auf einer endlos scheinenden Autofahrt seinen Weg von der Provence auf ihren Berliner Herd gefunden hat und der in den kommenden zwei Stunden den Eintopf für den frisch promovierten Bruder zur Vollendung führen soll.

(Frau kocht Suppe)

das sind jetzt nicht mehr drei Worte, sondern 135 und die Ausgangsbegriffe sind beschrieben, aber nicht verwendet.  

Ihr könnt euren Monster-EINSATZ in den Kommentaren posten oder dort verlinken. 

Dienstag, 3. Dezember 2013

Bildungsmisere

Punkte:

– klassische Bildung
– Stumpfsinn in der Medienlandschaft
– Ernüchterung

Als Schüler eines humanistische Gymnasiums habe ich mir (im Nachhinein) eingeredet, dass das Übersetzen antiker Texte durch permanente Analyse schriftlicher Sprachkonstruktionen

a.) den deutschen Sprachgebrauch verfeinert,
b.) das logische Denken trainiert.

Ernüchtert stelle ich fest, dass die beiden herausragenden Nullen im Publizismus unserer Generation – Jakob Augstein und Bettina Röhl – ebenfalls ein derart klassisches Bildungsinstitut genossen haben. Die zwei waren sogar an der gleichen Anstalt (in diesem Fall das Christianeum in Hamburg).Vielleicht sollte man diesem Gymnasium die Lehrbefugnis entziehen, bei näherer Betrachtung der erwähnten Alumni verdichtet sich der Eindruck, der Bildungsauftrag würde dort nicht adäquat umgesetzt. Die beiden gelten zwar als politisch konträr aufgestellt, dennoch muss man sie sich als Geschwister im Geiste vorstellen, da ihr miserabler Sprachgebrauch und argumentativer Dünnpfiff geradezu erschütternde Ähnlichkeiten aufweist.
Hatten die beiden denselben Deutschlehrer?

Folgende Zeilen stammen von Frau Röhl (veröffentlicht nicht in der Jungen Freiheit, sondern in der WirtschaftsWoche) und haben mir beim ersten, zweiten und selbst noch beim dritten Lesen die Schuhe ausgezogen. Zu Augstein ist ohnehin schon alles gesagt.
Also, jetzt zur Sache Röhl (die uns an dieser Stelle mit der Wortschöpfung "Ideologisten" und der Aufspaltung des "marxistisch-leninistischen" in einen "marxistischen, leninistischen" Menschen beschenkt):

"Die SPD war früher das Tummelbecken solcher Ideologisten, die den marxistischen, leninistischen neuen Menschen kreieren wollten und die sich in unzähligen Seminaren, Instituten, Vereinen und Stiftungen um die SPD herum organisierten. Jetzt ist sie eher das Sammelbecken der Anti-Christen, die einen durchgegenderten, antireligiösen, antikapitalistischen, weltrassisch-durchmischten Menschen muslimischen Glaubens als Ziel vor Augen haben. Eine Art neuen Deutschen und Super-Europäer und eigentlich einen Einheits-Weltbürger höchster Glückseligkeit und tunlichst dunkelhäutig."

Ich wünsche mir, dass Frau Röhl einen Deutschkurs besucht - eine Art Nachhilfeprogramm für deutsche Bildungsverlierer. Einen Kurs also, der sie über den richtigen (d.h. eleganten) Gebrauch von Adjektiven aufklärt. Mit dem Hinweis, dass es der Wortschöpfung "Ideologisten"nicht bedarf, wenn die deutsche Sprache die Vokabel "Ideologen"schon zur Verfügung stellt und schließlich(das betrifft dann allerdings nicht mehr die Beherrschung der eigenen Muttersprache, sondern die des logischen Denkens) mit der Feststellung, dass die Eigenschaften "antireligiös" und "muslimischen Glaubens" nicht im selben Menschen zusammen kommen können. 
Die Formulierung "weltrassisch-durchmischt" dokumentiert das kombinierte Versagen der  Geschichts- Deutsch- und Biologielehrer.


Schade, wenn die Bildungsanstrengungen einer Einrichtung wie es das Christianeum ist, derart nachhaltig am Zielpublikum vorbeigehen.

Montag, 18. November 2013

Lavastrom

Punkte

- Botschaft der Demokratischen Republik Kongo
- Andreas Gryphius
- 9. Klasse
- Autohäuser
- Rheine
- Bosnien


Ich habe eine Mitfahrgelegenheit nach Münster und bin dafür nach Charlottenburg gefahren. Wir haben dort eine U-Bahnsation als Treffpunkt vereinbart.  Als ich an der U-Bahn eintreffe, ruft mich der Fahrer an, es dauere jetzt doch noch - nicht lang, nur zehn Minuten  - ich möchte doch bitte zur Botschaft der Demokratischen Republik Kongo kommen. Das ist gleich um die Ecke. Das mache es schneller. Die Botschaft ist tatsächlich um die Ecke, in einer ruhigen Wohngegend, und direkt vor der Tür steht das Auto mit Münsteraner Kennzeichen. Das Auto ist leer. Ich schaue auf das Botschaftsgebäude, das sich von den Wohnhäusern hier nur darin unterscheidet, dass die Rollläden im Erdgeschoss heruntergelassen sind und über der Haustüre zwei Videokameras schräg nach rechts und links schielen. Das letzte Mal als ich vor einer Botschaft stand, war das zur Verlängerung meines US-amerikanischen Reisepasses. Der dortige Sicherheitsaufwand liess mich rektale Untersuchungen erwarten. Hier nichts. Leute kommen und gehen. Ich warte. Ich gehe drei Meter bis zur Straßenecke. Ich gehe die drei Meter wieder zurück. Warte immer noch. Nach einer Viertelstunde kommt einer aus der Botschaft und fragt mich, was ich hier mache. Ich warte - sage ich ihm  - auf jemanden, der zur Zeit in der Botschaft zu tun habe. Aus Münster. Ja der sei noch da, es dauere aber noch ein wenig. Dann geht er wieder rein. Kurz darauf kommt mein Fahrer heraus. Er ist Kongolese und ist aus Münster hierher gekommen, um seinen Pass verlängert zu bekommen. Er trägt einen blauen Anzug mit Streifen und rote, spitz zulaufende Schuhe. Es ist ihm sichtlich unangenehm, dass ich warten muss und er bittet mich mitzukommen. Es könne jetzt wirklich nicht mehr lange dauern. Wir packen meinen Koffer in seinen Auto und ich komme mit hinters Haus und dort in einen Kellereingang, der mich an den Waschkellereingang meiner Grossmutter in den achtziger Jahren erinnert. Dort im Keller sitzen wartend noch andere, deren Gesichtsausdruck darauf schließen lässt, dass auch sie schon deutlich länger hier sind, als sie das befürchtet hatten. Eine Frau mit ihren beiden jugendlichen Kindern - Sohn und Tochter - sitzen am Tisch, ohne sich mit irgendetwas zu beschäftigen und eine andere Frau hat sich auf ein Sofa gefläzt, ihr Daumen rutscht unruhig über den Display ihres Smartphones. Das Mobiliar besteht aus durchgesessenen braunen Ledersofas und gepolsterten Stühlen der frühen neunziger Jahre, die in Pastellfarben bespannt sind. An der Wand hängt ein Poster "Leaders of the Democratic Republic of Congo since 1960". An den mit der Leopardenmütze kann ich mich erinnern. Die Frau, deren Kinder deutlich dunklere Haut haben als sie selbst, versucht mehrfach mit den eigenen Kindern ins Gespräch zu kommen, aber die beiden lassen sie auflaufen. Die Mutter spricht sehr gebrochenes Deutsch und steht dann auf, um den Kindern auf dem Poster Mobutu zu zeigen "Unser Präsident". Die Kinder schauen kommentarlos auf das Poster. Als die Mutter auf das Bild mit den vielen Kindern Mobutus zeigt, senken sie wieder den Blick. Die Kinder tuscheln in akzentfreiem Deutsch. Dann spricht die Tochter die Mutter doch noch an. Sie sprechen Französisch. Das Französisch der Tochter ist europäisch - schwebende Phrasen in fliessenden Flötentönen während die Sprache der Mutter in zentralafrikanischen Rhythmen und kräftig gerolltem R von der Zunge schnalzt. Jetzt kommt ein Botschaftsangehöriger und stellt der Familie Fragen. Die Mutter hat eine Adresse und einen Namen falsch buchstabiert - die Kinder rollen mit den Augen. Dann legt der Beamte meinem Fahrer ein Formular zum Ausfüllen auf den Tisch. Mein Fahrer beginnt das Formular auszufüllen und fragt mehrfach nach, was genau an bestimmten Stellen einzutragen sei. Der Beamte nimmt ihm das Formular wieder ab, es gehe schneller wenn er ihm dabei helfe. Der Beamte setzt sich an den Tisch und schreibt munter los, wobei er beginnt Witze zu erzählen. Erst auf französisch, dann wechseln die beiden in eine afrikanische Sprache, die ich nicht zuordnen kann. Das Lachen wird mit dem Sprachumschwung deutlich schmutziger. Ich bin jetzt schon seit anderthalb Stunden in diesem Botschaftskeller und habe Gottseidank was zum Lesen dabei. Dann kommt noch ein Botschaftsbeamter und erklärt der Familie, die dafür extra aufsteht, dass jetzt alles in Ordnung sei. Die Kinder beobachten ihn mit geschlossenem Mund und gesenkten Köpfen, zur Verabschiedung geben sie dem Beamten stumm die Hand. Dann gehen sie, die Mutter ist erleichtert. Der stehende Beamte fragt mich, ob ich wegen eines Visums da sei. Ich verneine, schließlich warte ich auf den Pass meines zur Zeit nicht reisefertigen Fahrers. Den Roman habe ich ausgelesen und ich blättere jetzt durch eine Zeitschrift, die auf das Potential der Demokratischen Republik Kongo und auf die wegweisenden Taten des Präsidentenehepaars hinweist. Schließlich verlassen auch wir den Keller und machen uns auf den Weg. Der Fahrer ist sehr freundlich, lacht gerne und hat ohnehin dank seiner hohen fleischigen Wangen  einen Gesichtsausdruck der suggeriert, dass er jederzeit losprusten müsse vor lachen.

Der Himmel dunkelt schnell ein und wir befinden uns im Purgatorium der deutschen Autobahnen. Vor mir eine endloser Lavastrom roter Rücklichter, während uns von links ebenso endlos weisse Scheinwerfer entgegen schwappen. Sechs Kilometer Stau in der Gegenrichtung. Wir machen Witze. Noch. Bis uns auch der Stau erwischt in Bad Oeynhausen. Das schreibt man wirklich so. Wir stehen schon am Ortseingang denn wir sind (um es vorsichtig zu formulieren) nicht die einzigen, die hier unterwegs sind. Ich schaue auf die Häuser neben mir. Erst ein Industrieunternehmen namens Archimedes, dann ein Autohaus, das auf sechzig Metern Länge BMW und Mercedes zum Verkauf beleuchtet. Dann ein Freizeit Universum. Das heisst wirklich so, schimmert unbeleuchtet im Dunklen und ist ein Betonwürfel mit zwei grossformatigen Kinoplakaten drauf. Zum einen eines von "Gravity" auf dem George Clooney endgültig verloren im Nirgendwo hängt und zum anderen eine Komödie, deren Namen ich schon vergessen habe, noch während ich das Plakat anschaue. Dann wieder ein Autohaus. Ford und Hyundai. Vierzig Meter. Ich lasse den Blick zur anderen Straßenseite schweifen, dort warten Opel und Citroen. Sechzig Meter. Habe ich in der Dunkelheit ein Gartencenter übersehen? Wir stehen immer noch und an dieser Stelle sollte ich darauf hinweisen, dass mein Bruder in Bad Oeynhausen lebt. Wir kommen nicht oft dazu miteinander zu reden, aber wenn der Verkehr so bleibt, könnte ich ihn besuchen gehen ohne Fahrzeit zu verlieren und dann langsam zum Ortsausgang spazieren um dort wieder auf meinen Fahrer zu warten. Mein Blick kehrt zur rechten Straßenseite zurück. Noch eine Mercedes Benz Vertretung. Es gibt Ecken in Deutschland, in denen Autoverkaufsflächen heller strahlen als die Milchstraße und die Kultur irgendwo im Dunkel eines Freizeituniversums abhanden gekommen ist. Irgendwo da, von wo auch George Clooney nicht mehr zurückkommt. Langsam kommen wir doch noch zum Ortsausgang und ich frage mich, ob ich gerade irgendetwas über den Menschen erfahren habe, der BMW fährt, sich in Oeynhausen ein Haus gekauft hat und der mein Bruder ist, mit dem ich eben selten spreche.

Ein Verkehrsschild am Ortsausgang weist auf einen Ort namens Rheine hin und irgendetwas klingelt in meinem Hinterkopf, aber ich weiss  noch nicht was. Dann fällt es mir wieder ein: in Rheine läuft eine Ausstellung, für die ich Texte eingesprochen habe. Mitten im Sommer kam ein unerwarteter Anruf einer Kollegin, mit der ich zum letzten Mal vor zwölf Jahren beruflich zu tun hatte. Ob ich Zeit für Sprachaufnahmen hätte. Ich hatte. In der Textvorlage war auch ein Gedicht aus dem Dreißigjährigen Krieg von Andreas Gryphius, das wir in der neunten Klasse behandelt haben. Anhand dieses Gedichtes habe ich Begriffe wie "Sonett", "Dichotomie" und "Alexandriner" gelernt. Aber das ist nicht das Wesentliche, was mir davon blieb. Es war das erste Gedicht in älterer Sprache, das mich berührt hat. Verstört um genau zu sein. Es hat mich in seiner lakonischen Aufzählung der materiellen Verluste, die erst in der letzten Zeile die menschlichen Traumatisierungen subsummiert, verstört. Jemand, der auf die Allgegenwart der Traumata hinweist, sie spürbar macht, aber keine Sprache hat, um sie zu benennen. Ich habe dieses Gedicht in der Zwischenzeit nicht mehr gelesen und doch immer wieder daran gedacht. 1999 als ich zum ersten Mal durch das immer noch zerstörte Bosnien fuhr. Später bei Bildern aus Afghanistan und angesichts des toten Blickes in den Augen amerikanischer und deutscher Veteranen. Irgendwo ist Kultur dann doch mehr als Freizeit. Ein anderes Leuchten.
Ich möchte die Ausstellung sehen, wenn ich schon hier bin und Rheine von Münster nicht weit weg ist.
Verbindet gestern mit heute

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